Joe Witke nahm sich einmal mehr kein Blatt vor den Mund und rief vor versammelter Presse in seiner unnachahmlichen Art auf, die Narrenfreiheit zu beenden. Der Grund für seine emotionale Äußerung ist eine Studie, deren Ergebnis zu Folge nach Österreich entsendete Arbeitskräfte dem Staat 1,5 Milliarden Euro kosten und gleichzeitig die Existenz vieler Handwerksbetriebe bedrohen. „Gleiche Abgaben für gleichen Lohn“, lautet Witkes Forderung. Aufmerksamen i-Magazin-Lesern ist es sicher nicht entgangen, dass die Bundesinnung der Elektrotechnik gemeinsam mit der Sparte Gewerbe und Handwerk vor einigen Monaten eine Studie in Auftrag gegeben hatte. Sie sollte zeigen, wie hoch die Verluste für die Handwerksbranchen sind, die aus den grenzüberschreitenden Arbeiten von Firmen (vor allem) aus dem Osten Europas nach Österreich entstehen. Einen Teil der brisanten Ergebnisse veröffentlichte das i-Magazin exklusiv bereits in der Ausgabe 12/2016 im Rahmen der BIAS-Berichterstattung. Jetzt, da die Studie komplett vorliegt, wurden die Daten der Öffentlichkeit präsentiert. Zum einen nahm sich die ZIB 2 am 27. Februar des Themas an und zum anderen standen die Obfrau der Sparte Gewerbe und Handwerk, Maria Smodics-Neumann, BIM Joe Witke, Nationalratsabgeordneter Josef Muchitsch und Mag. Thomas Oberholzner, KMU-Forschung Austria und Autor der präsentierten Studie, den Medien im Rahmen einer groß angelegten Pressekonferenz ein paar Tage später Rede und Antwort. Dass sie dabei mit der einen oder anderen kritischen Frage eines Journalisten konfrontiert wurden, war absehbar.
Ausgangslage
Unternehmen mit Sitz im Europäischen Wirtschaftsraum entsenden Arbeitskräfte nach Österreich, um hier Dienstleistungen zu verrichten. „Es gilt die Meinung, dass, wenn eine ausländische Arbeitskraft in Österreich arbeitet, sie auch das Gleiche kostet – das stimmt jedoch so nicht“, gab Josef Muchitsch, seines Zeichens auch Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Bau-Holz und Sprecher der Sozialpartner-Initiative »Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze«, zu bedenken. „Denn ausländische Firmen, die in Österreich arbeiten, zahlen in ihren eigenen Ländern die Lohnnebenkosten – das führt in einem gemeinsamen Europa zu einem unfairen Wettbewerb. Die grenzüberschreitenden Dienstleistungen nach Österreich bewirken somit aber auch eine Verdrängung am Arbeitsmarkt – und sie findet bereits jetzt statt! Wie ist es sonst möglich, bei einer Rekordbeschäftigung eine Rekordarbeitslosigkeit zu verzeichnen?“, stellte der NR-Abgeordnete die Frage in den Raum. Neben den Arbeitnehmern kommen jedoch auch die Betriebe zum Handkuss – ihnen entgehen dadurch Umsätze in Milliardenhöhe, so die Studie. Aber auch der Staat Österreich verliert in diesem Zusammenhang Einnahmen von mehr als 1,5 Milliarden Euro, während andere Länder von Wettbewerbsvorteilen profitieren. Die Conclusio von Maria Smodics-Neumann, Josef Muchitsch und Joe Witke lautet daher: Branchen sterben, Betriebe müssen zusperren, Arbeitsplätze gehen verloren.
„Die Folgen der Entsenderichtlinie sind für viele der österreichischen Betriebe bereits seit Längerem spürbar – mit der Studie, die auf statistischen Daten beruht, haben wir die Konsequenzen daraus nun endlich auch in Zahlen schwarz auf weiß vorliegen. Wenn die Politik nicht will, dass im Gewerbe und Handwerk ganze Branchen sterben, muss jetzt gegengesteuert werden“, ließ Smodics-Neumann die Journalisten wissen und schilderte daraufhin ein fiktives Beispiel: So kann etwa ein bulgarisches Unternehmen (die Länderauswahl ist willkürlich getroffen) den betreffenden Mitarbeiter bis zu 183 Tage im Jahr nach Österreich entsenden – in diesem Zeitraum wird der Mitarbeiter zu den Bedingungen des bulgarischen Unternehmens bzw. den gesetzlichen Bestimmungen von Bulgarien aber nach dem Lohndumpinggesetz entlohnt – eine (KV-)Prüfung erfolgt nur durch Zufall. D.h. Lohnkosten, Sozialversicherung und Lohnsteuer werden in Bulgarien bezahlt. „Da die Kollektivverträge und Lohnnebenkosten in den Ländern der EU sehr unterschiedlich sind – in Österreich haben wir 35,7 % Lohnnebenkosten, im genannten Vergleichsland Bulgarien sind es 18,6 % – können die Unternehmen in diesen Ländern ihre Arbeitsleistung auch dementsprechend günstiger als die Österreicher verrichten. Die Folge daraus war, dass viele Aufträge von Firmen aus den EU-Nachbarländern bei uns abgewickelt wurden und diese Projekte, den österreichischen Firmen, die hier ihre Abgaben leisten und die Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen, entgingen“, so Smodics-Neumann. Joe Witke skizzierte die Situation bei den Handwerksbetrieben auf folgende Art und Weise: „Derzeit bieten ausländische Unternehmen ihre Arbeiter offiziell zu einem Stundensatz zwischen 18 und 22 Euro an. Alleine die Selbstkosten einer österreichischen Firma für ihre Mitarbeiter liegen im Gegenzug zwischen 39 und 55 Euro – damit sind wir nicht mehr konkurrenzfähig. Betriebe in der Größenordnung zwischen 5 und 30 Mitarbeitern stehen knapp davor, Personal abzubauen und die Lehrlingsausbildung zu beenden – einzig und alleine, weil es nicht mehr leistbar ist.“ Dass sich größere heimische Handwerksbetriebe die Entsenderichtlinie zum Vorteil machen, ist nichts Neues: „Diese Firmen nehmen Aufträge in Österreich zu Dumpingpreisen an, schreiben sie in den osteuropäischen Ländern aus, vergeben sie an die betreffenden Auslandsfirmen und verdienen damit wesentlich mehr als österreichische Firmen, die heimische Mitarbeiter beschäftigen“, so der Bundesinnungsmeister, der ab dem ersten Tag der Grenzüberschreitung eines Arbeitnehmers gleiche Abgaben für gleichen Lohn fordert.
Die Zahlen
Die Studie der KMU-Forschung Austria im Auftrag der Wirtschaftskammer soll nun die ökonomischen Auswirkungen von entsendeten Arbeitskräften vom EWR-Ausland nach Österreich zeigen. Als Basis für die Studie galten jene Zahlen, die der zentralen Koordinationsstelle des Finanzministeriums gemeldet wurden. So gab es 2015 zwischen 130.000 und 140.000 Entsendefälle nach Österreich – die meisten davon im B2B-Bereich der Bau- und Baunebenbranchen. Im Vergleich zu 2014 war das ein Anstieg von 20 %. Da die Steuern und die Sozialabgaben im Entsendeland abgeführt werden, entgingen dem Staat Österreich der Studie nach 764 Mio. Euro an Lohnsteuer, Sozialversicherungsbeiträge und Arbeitgeberabgaben. Die KMU-Forschung Austria schätzt das für österreichische Betriebe entgangene Umsatzvolumen auf 4,38 Mrd. Euro – bei einer durchschnittlichen Umsatzrentabilität von 4 % kam es zu 175 Mio. Euro entgangener Gewinne und damit zu 44 Mio. Euro entgangener Gewinnsteuer für den Staat Österreich. Bei Geschäften mit privaten Konsumenten wird die Umsatzsteuer bekanntlich im Entsendeland abgeführt. Die KMU-Forschung Austria veranschlagt den Anteil des Umsatzes mit privaten Verbrauchern am gesamten entgangenen Umsatzvolumen auf 875 Mio. Euro. Die daraus resultierende entgangene Umsatzsteuer beläuft sich auf 175 Mio. Euro. Die Studie reicht aber noch weiter: Denn in dem Ausmaß, in dem heimische Arbeitskräfte durch entsendete Arbeitskräfte in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden, kann dies zu höheren Arbeitslosengeldzahlungen führen – für das Jahr 2015 schätzt die KMU-Forschung Austria das maximale Ausmaß höherer Arbeitslosengeldzahlungen auf 535 Mio. Euro.
»Lücke schließt sich nicht von alleine«
„Wir sind angehalten, uns Verbündete aus anderen Lagern und anderen Ländern zu suchen, um diese Problematik in Brüssel aufzuzeigen“, sehen Maria Smodics-Neumann, Josef Muchitsch und Joe Witke im Netzwerkknüpfen den ersten Schritt zur Lösung. „Wir nutzen dabei natürlich alle unsere Kontakte – sei es über die Berufsstände in den anderen Ländern oder den politischen Beziehungen“, ergänzte Smodics-Neumann. Josef Muchitsch wiederum versprach, dass kein Mitglied der Bundesregierung in der nächsten Zeit in Europa unterwegs sein wird, ohne auf das Problem hinzuweisen: „Sowohl Bundespräsident Van der Bellen, Bundeskanzler Kern als auch Außenminister Kurz lassen derzeit keine Möglichkeit aus, dieses Thema bei ihren Regierungskollegen anderer Länder anzusprechen und werben dabei um Verständnis. Aber auch wir Sozialpartner werden unseren Teil dazu beitragen. Bei unserem nächsten Treffen im Juni in Brüssel werden wir die EU-Parlamentarier und die Europäische Kommission auf die Sachlage aufmerksam machen“, gab sich Muchitsch kämpferisch.
Da die Sozialpartner explizit nicht gegen einen europäischen Binnenwirtschaftsraum sind, sondern ausschließlich unfaire Bedingungen verändern wollen, wäre es auch möglich, bei den vier Grundfreiheiten der EU anzusetzen und so bei der Dienstleistungs-Verkehrsfreiheit zu verankern, dass das Lohnniveau, das in einem Mitgliedsstaat herrscht, für alle Unternehmen gilt, die in diesem tätig sind: „Wenn ein Unternehmen in Österreich ein Projekt abwickelt, soll es die gleichen Kosten inklusive Lohnnebenkosten haben, wie ein heimisches Unternehmen – es soll dabei aber zu keinen Vorteilen zur Finanzierung von Systemen kommen. Diese Forderung ist wesentlich realistischer und damit auch zielführender als zu glauben, dass Staaten wie Ungarn, Polen oder andere ihre Standards erhöhen oder wir in Europa ein einheitliches Steuersystem zustande bringen“, zeigte Muchitsch abschließend auf, wie das gemeinsame Europa aus der Sicht der Sozialpartner handeln sollte, um wieder zu fairen Bedingungen zurückzukehren.
Die Ergebnisse der Studie in Zahlen gefasst
- in Österreich entgangene lohnbezogene Abgaben: 764 Mio. Euro
- in Österreich entgangene Gewinnsteuer: 44 Mio. Euro
- in Österreich entgangene Umsatzsteuer: 175 Mio. Euro
- erhöhte Arbeitslosengeldzahlungen: 535 Mio. Euro
Summe aus entgangenen Abgaben und erhöhtem Arbeitslosengeld: 1,52 Mrd. Euro
„Und dies sind nur die offiziell zur Verfügung stehenden Zahlen (Datenschutz) und somit nur die Spitze des Eisberges – die Schwarzarbeit und alle inoffiziell Arbeitenden sind in diesen Zahlen nicht enthalten! Ihr dürft schätzen, wo die liegen!“, lautet die Aussage von BIM Joe Witke abschließend und exklusiv vor dem i-Magazin-Mikro.