Systeme und Anlagen: Kurzschlüsse wie aus dem Nichts

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In elektrischen Systemen aller Art kommt es manchmal wie aus heiterem Himmel zu Kurzschlüssen. Zwar sind die direkten Schäden meist geringfügig, doch ein dadurch verursachter System- oder Anlagenausfall erzeugt oftmals hohe Folgekosten. Die Ursachen solcher Störfälle sind in der Regel nicht erkennbar und lassen sich nicht eindeutig nachweisen. Allerdings weiß man heute, dass sogenannte Zinnwhisker dafür verantwortlich sein können. Deren Existenz ist seit vielen Jahren bekannt.

Whisker (englisch für Schnurrhaar) sind millimeterlange, nadelförmige Einkristalle, die auch Haarkristalle genannt werden. Sie wachsen in erster Linie auf glatten Oberflächen wie etwa den in der Elektrotechnik vorkommenden Zinnschichten und haben eine äußerst unangenehme Eigenschaft: Sie sind leitfähig und können zwischen 10 und 50 Milliampere Strom führen. Hat sich also auf einer Leiterplatte, Klemme oder bei einem Stromschienensystem über Jahre ein Zinnwhisker gebildet, so kommt es beim Kontakt mit einem benachbarten Leiter zur Lichtbogenbildung bzw. zu einem Kurzschluss. Da der Whisker hierbei verdampft, ist er als Auslöser später nicht mehr identifizierbar.

NASA nimmt das Whisker-Thema ernst
„Bei von Zinnwhiskern hervorgerufenen Störfällen muss man von einer nicht näher bestimmbaren Dunkelziffer ausgehen“, sagt Manfred Pinkowski, Geschäftsführer von ABH Stromschienen aus Duisburg. In Rechenzentren, Krankenhäusern und in der Großindustrie, wie zum Beispiel in Bereichen wie Automobil, Chemie und Luftfahrt, ergibt sich damit ein beträchtliches Gefahrenpotenzial. „Denn nachweislich kann fast überall dort, wo zinnbeschichtete Kupfer- oder Aluminiumleiter mit Strom und Sauerstoff zusammenkommen, ein potenzielles Whisker-Problem auftreten“, so Pinkowski weiter. Und dass dieses Problem sehr ernst zu nehmen ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die NASA eigens eine Tin Whisker (and Other Metal Whisker) Homepage betreibt.

Etwas mysteriös ist das Ganze allemal. So ist zwar bekannt, dass Faktoren wie äußere und innere mechanische Spannungen, Wärme und Luftfeuchtigkeit das Wachstum der kleinen »Stromer« begünstigen. Wie das alles aber physikalisch im Detail zusammenhängt und ob es noch weitere Faktoren gibt, ist noch nicht genau erforscht. Klar indes ist, dass Whisker unter identischen Bedingungen manchmal auftreten und manchmal eben nicht. Ihre Entstehung ist somit nicht exakt vorhersagbar.

Probleme treten erst nach einigen Jahren auf
Außerdem bilden sich Zinnwhisker in elektrischen Systemen und Anlagen immer erst nach einigen Jahren Betriebsdauer – was die Sache nicht gerade einfacher macht. „Nimmt man all dies zusammen, so erscheint eine wirksame Bekämpfung des Problems zunächst einmal unmöglich“, ergänzt Hüseyin Han, geschäftsführender Gesellschafter von ABH Stromschienen. Zumal viele Bereiche einer Anlage oder eines Systems schlichtweg nicht einsehbar sind und sich ob der oben erwähnten Umstände auch durch regelmäßige Routinekontrollen keine größtmögliche Ausfallsicherheit erreichen lässt. Und hinzu kommt: Je umfangreicher und komplexer eine Anlage ist, desto größer und kostenintensiver wird der erforderliche Kontrollaufwand.

Bei Stromschienen kann man der Whisker-Problematik entgegenwirken, indem diese mit einer hohen Spannung und einem geringen Strom über einen kurzen Impuls »freigeblasen« werden – dabei zerstört der gesteuerte Kurzschluss die etwaigen Zinnwhisker. Doch der Aufwand ist in vielen Anwendungen technisch nicht realisierbar oder nicht mit dem Produktionsablauf vereinbar. Denn hierfür müssen das komplette System stillgelegt und alle Verbraucher, Maschinen und Anlagen sowie die Verbindung in der Schaltanlage vom Stromschienensystem getrennt werden. Eine Mammutaufgabe, die meist mit einem erheblichen Produktionsausfall einhergeht.

Neue EU-Verordnung verschärft die Situation
Verschärft wurde die Whisker-Problematik durch die Einführung der RoHS-Richtlinie 2011/65/EU im Jahr 2011, die die Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten einschränkt. Seither dürfen Hersteller beim Lötprozess und bei der Oberflächenbehandlung von Leitermaterialien nur noch ein absolutes Minimum bleihaltigen Lots verwenden – aufgrund seiner chemischen Eigenschaften hat jedoch das Blei dort bisher die Whisker-Bildung verhindert. Das ist so jetzt nicht mehr möglich. Infolgedessen wird das Entstehen von Whisker heute sogar eher noch begünstigt, denn je niedriger der Bleianteil im Zinn ist, desto besser kann sich ein Whisker bilden.

Deshalb kommen beispielsweise bei der Gestaltung von Leiterplatten und Stromschienen mittlerweile bestimmte, in DIN EN ISO 13849-2:2013 und 61800-5-2:2008 festgelegte Regeln zur Anwendung, mit denen whiskerbedingte Kurzschlüsse vermieden werden sollen. Darüber informiert unter anderem das IFA Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung in seinem Merkblatt (PDF) »Zinnwhisker auf Leiterplatten«. Das Problem ist damit aber bei Weitem nicht aus der Welt.

Anwender und Kunden machen sich Sorgen
„Fakt ist, dass in den vergangenen Jahren die Kundenanfragen in Bezug auf Whisker-Bildung speziell in Stromschienensystemen signifikant zugenommen haben“, sagt Pinkowski. „Daraus lässt sich zwar nicht unbedingt ableiten, ob andere Anbieter dieses Problem haben – aber offensichtlich ist ein immer größerer Teil der Anwender heute für dieses wichtige Thema sensibilisiert.“

Dies nicht von ungefähr. Denn ging man im Markt lange Zeit davon aus, dass Zinnwhisker ohnehin nur maximal zwei oder drei Millimeter lang werden und somit in Stromschienensystemen kein Kurzschlussrisiko darstellen, so ist man heute klüger: Tatsächlich sind dort laut Gutachten des Whisker-Experten Dipl.- Ing. Jürgen Vogler vom IBV Berlin sogar bis zu 12 Millimeter Länge möglich. Entsprechend hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass viele der bis dato noch rätselhaften bzw. unerklärlichen Kurzschlüsse in Systemen und Anlagen eben darauf zurückzuführen sind. Und kommt es in einem Stromschienensystem dann tatsächlich einmal zum Ernstfall, sind systembedingt selbst größere Explosionen nicht auszuschließen.

Auf die richtige Zwischenschicht kommt es an
„Zu Recht besorgten Kunden und Anwendern teilen wir gerne mit, dass sich das Whisker-Wachstum durch das Aufbringen von mindestens drei Mikrometer dicken Zwischenschichten auf den blanken Verbindungs- und Abgangsstellen der Leiterschienen wirksam unterdrücken lässt. Meist wird hierzu Nickel genutzt, aber auch Gold und Silber eignen sich dafür“, schließt Han. „Das ist keine Raketenwissenschaft, sondern dieses Verfahren ist bekannt und geprüft und beruht auf physikalischen und chemischen Grundwissen.“

ABH Stromschienen selbst verwendet Systeme des Herstellers EAE Elektrik. Dieser produziert seit 1973 Stromschienensysteme und verzinnt und vernickelt seine Leitermaterialien seit 2010, hat also schon vor dem Inkrafttreten der neuen RoHS-Richtlinie der EU damit begonnen. Zusätzlich werden die einzelnen Leiterschienen in den Stromschienensystemen so verbaut, dass dazwischen ein mehr als ausreichend großer Abstand gewahrt bleibt. Sollte die Zwischenschicht also einmal durch Fremdkontraktion beschädigt werden, könnte ein Zinnwhisker die Distanz erst gar nicht überbrücken. Einen durch Whisker ausgelösten Störfall hat es in all den Jahren bei den von ABH Stromschienen eingesetzten Systemen daher nicht gegeben.

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