Im Direct-Cinema-Stil porträtiert der Dokumentarfilm Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien eine österreichische Institution zwischen reicher Vergangenheit und herausfordernder Zukunft: Während der Vorbereitungen für ihr 100-Jahr-Jubiläum wird die Arbeiterkammer begleitet und erweist sich als einzigartige Anlaufstelle für die vielen Menschen, die um ihre Rechte kämpfen.
Synopsis
Als gesetzliche Interessensvertretung ist die Arbeiterkammer (AK) täglich Anlaufstelle für Menschen, die um ihre Rechte kämpfen. Der Dokumentarfilm Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien beschreibt diese einzigartige Institution in einem Schlüsselmoment: Im Direct-Cinema-Stil porträtiert Regisseur Constantin Wulff die Arbeiterkammer während der Vorbereitungen für ihr 100-Jahr-Jubiläum. Die vielseitigen Einblicke zeigen, wie sich die Aufgaben der AK mit Digitalisierung und Globalisierung geändert haben. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie wird zur nächsten großen Herausforderung…
Für die Vielenist das Porträt einer Institution zwischen reicher Vergangenheit und ungewisser Zukunft – sowie des gesellschaftlichen Ausnahmezustands der Gegenwart an sich.
Regiestatement
Auf die Arbeiterkammer bin ich in einer Zeit aufmerksam geworden, die ich in gesellschaftspolitischer Hinsicht als sehr bedrückend in Erinnerung habe. Es waren die Jahre 2018/19, als ÖVP und FPÖ in Österreich eine Regierungskoalition bildeten: ein Bündnis aus einer radikalisierten konservativen ÖVP (Sebastian Kurz) und einer extremen rechten FPÖ. Die Zeit war wegen der Dominanz der Regierungspolitik so bedrückend und wegen der Vehemenz, mit der Gesellschaft und Staat nach autoritären Gesichtspunkten umgebaut wurden und der die Oppositionsparteien nichts Substanzielles entgegenzusetzen hatten. Die einzig wahrnehmbare Opposition kam aus meiner Sicht aus der Zivilgesellschaft und sachpolitisch von den Gewerkschaften – und eben von der Arbeiterkammer.
Über die Arbeiterkammer wusste ich, dass ihre Geschichte mit jener der Sozialdemokratie in Österreich und der Gewerkschaftsbewegung eng verbunden ist und dass ihre Leistungen für viele von großer Bedeutung sind. Aber wie die meisten Menschen in Österreich wusste ich von den Tätigkeiten der Arbeiterkammer kaum etwas und es gab nur wenig relevante Literatur oder Filme über diese international gesehen einzigartige Institution. Das fand ich reizvoll, denn für mein Verständnis von Dokumentarfilm ist es ganz zentral, dass ich Dinge entdecke, die ich vorher noch nicht kenne.
Meine filmische Methode der Darstellung von Institutionen ist das Direct Cinema, das beobachtende Kino: keine gestellten Szenen, keine Interviews, kein erklärender Off-Kommentar. Diese Methode hat zur Folge, dass man sich sehr viel Zeit nehmen muss, in der Recherche als auch beim Drehen und vor allem in der Montage, um über das bloße Abbilden hinauszukommen. Direct-Cinema-Filme sind Entdeckungsreisen und in diesem Sinne habe ich auch das Drehen in der Arbeiterkammer gestaltet, als offenes Unternehmen. Für mich gibt es im Bereich des Dokumentarischen nichts Ärgerlicheres als »scripted reality« oder das Konzept des dokumentarischen »Themenfilms«, wo der Film lediglich zeigt, was er vorher schon weiß. Für mich ist Dokumentarfilm das genaue Gegenteil davon: eine Konfrontation mit der Wirklichkeit.
Für die Vielen ist mein dritter Film über eine öffentliche Institution in Österreich. Die Arbeiterkammer in Wien ist im engeren Sinne keine staatliche Einrichtung, sondern eine selbstverwaltete, unabhängige Organisation. Gesetzlich geregelt ist, dass jede Angestellte und jeder Angestellte in Österreich mit einem Betrag seines Gehalts zur Finanzierung der Arbeiterkammer beizutragen hat. Eine Art institutionalisierte Solidarität (ähnlich wie bei den Sozialversicherungen). Darüber hinaus spielt die Arbeiterkammer im System des österreichischen Sozialstaats als politische Interessensvertretung eine wichtige Rolle. Was sie vielleicht von anderen politischen Lobbys unterscheidet: dass sie ein einflussreicher Thinktank ist und zugleich nah am Alltag der arbeitenden Menschen. Von Anfang an war mir deshalb klar, dass FÜR DIE VIELEN die Geschichten der Menschen, die sich an die Arbeiterkammer wenden, in Verbindung bringt mit der Expertise, die diese Institution ausmacht.
Im Spätherbst 2019 haben wir zu drehen begonnen. In den vielen Wochen und Monaten, die ich in der Arbeiterkammer verbracht habe, kristallisierten sich die Themen und Erzähllinien des Films heraus. Wie in meinen vorherigen Filmen war ich fasziniert von der scheinbar unendlichen Fülle an Verhaltensweisen, die sich in einer Institution aus dem Aufeinandertreffen von Individuum und Einrichtung ergibt. Das Direct Cinema ist aus meiner Sicht für die Darstellung dieser normierten Welt besonders erkenntnisreich, da es – im Gegensatz zu den üblichen Konventionen des Dokumentarischen – das Paradoxe nicht scheut und dem Realen grundsätzlich in Erwartung des Unerwarteten begegnet, das immer einen Überschuss an Ambivalenz, Widerspruch und Überraschung produziert. Als die Covid-19-Pandemie begann, waren wir mitten in den Dreharbeiten und gezwungen Mitte März 2020 den Dreh zunächst zu unterbrechen. Wie die Arbeiterkammer selbst mussten wir auf die »neue Wirklichkeit« reagieren. Das allmähliche Hereinbrechen der Pandemie war aber schon Teil des Films geworden. Es lag auf der Hand, dass die Richtung der filmischen Reise nun von zusätzlichen Regeln diktiert werden würde. – Constantin Wulff
„Eine Konfrontation mit der Wirklichkeit“- Constantin Wulff im Gespräch mit Karin Schiefer
Die Institution der Arbeiterkammer ist ein österreichisches Unikum. Finanziert aus den Beiträgen der Erwerbstätigen vertritt diese unabhängige Einrichtung seit 100 Jahren deren Rechte und Interessen. Constantin Wulff hat seinen neuen Dokumentarfilm Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien dem Wiener Stammhaus gewidmet. Mit seiner beobachtenden Kamera streift er durch das mehrstöckige Gebäude von der zentralen Ebene der individuellen Beratungen über Think Tanks in arbeitspolitischen Fragen bis in die Managementetage und erfasst mit der präzisen Inspektion eines einzigen Hauses und seiner Klient:innen nicht nur das vielschichtige Spektrum der aktuellen Gesellschaft, sondern auch die sozioökonomischen Konfliktzonen moderner Arbeitsprozesse.
Die Themen Ihrer Dokumentarfilme wie zuvor In die Welt und Wie die anderen waren immer verbunden mit öffentlichen Institutionen. Der Titel Ihres neuen Films über die Wiener Arbeiterkammer Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien bringt es besonders genau auf den Punkt. Was hat Sie denn zur Arbeiterkammer geführt?
Constantin Wulff: Ich wollte wieder eine Institution in Österreich porträtieren und hatte schon verschiedene angesprochen, als mich meine Frau auf die Arbeiterkammer in Wien aufmerksam gemacht hat. Ihr Hinweis fiel in eine Zeit, in der mir die Arbeiterkammer stärker aufgefallen ist als zuvor, denn bis dahin wusste ich wenig über diese Organisation. In dieser Zeit, 2018, stellte eine Koalition aus ÖVP und FPÖ unter Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache in Österreich die Regierung. Ich habe diese Zeit gesellschaftspolitisch als sehr bedrückend empfunden, insbesondere weil diese sehr rechte und populistische Politik damals so dominant war und ihr beispielweise von den Oppositionsparteien nichts Substanzielles entgegengesetzt wurde. Aus meiner Sicht kam in dieser Zeit die einzig wahrnehmbare Opposition aus der Zivilgesellschaft und sachpolitisch sehr stark von den Gewerkschaften und eben der Arbeiterkammer. Deshalb wollte ich mir die Arbeiterkammer einmal näher anschauen. Dies fand ich doppelt reizvoll, denn für mein Verständnis von Dokumentarfilm ist es ganz zentral, Dinge zu entdecken, die ich noch nicht kenne. Nachdem ich von der Leitung der Wiener Arbeiterkammer für das Filmprojekt grünes Licht bekommen habe, habe ich mich 2018 und 2019 der Recherche, dem Konzeptschreiben und der Finanzierung gewidmet und schließlich im Spätherbst 2019 zu drehen begonnen.
Wie gewinnt man so eine Institution für ein dokumentarisches Filmprojekt?
Ob man die Erlaubnis in einer Institution zu drehen bekommt, hängt sehr stark davon ab, ob es einzelne Menschen in Leitungspositionen gibt, die vom Filmprojekt überzeugt sind. Das war auch bei meinen Filmen In die Welt über die Wiener Semmelweisklinik und Wie die anderen über die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tulln so. Im Fall der Wiener Arbeiterkammer gab es ein sehr aufgeschlossenes Management-Team, das mich von Beginn an unterstützt hat. Was aber für mich noch entscheidender ist, stellt sich dann erst in der Recherche heraus: Ob das Vertrauen in den Film auch vom Großteil der Angestellten der Institution getragen wird. Ohne die Unterstützung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kann ich meine Form des dokumentarischen Arbeitens nicht umsetzen. Für mich ist es essentiell, ob ich mich in der Institution frei bewegen kann und ob ich über die vielen Dinge, die passieren, rechtzeitig informiert werde. Ich bin viele Monate ohne Kamera und Tonband vor Ort. In dieser Zeit lerne ich die Institution kennen, aber vor allem lernen die Menschen, die dort arbeiten, mich kennen. In den vielen Gesprächen, die ich führe, mache ich meine Arbeitsweise und Position deutlich. Es wird dann beiden Seiten klar, dass ich einen Film realisieren werde, der auf dem Prinzip der Unabhängigkeit basiert, dass ich aber der Institution, die ich porträtiere, nicht radikal skeptisch gegenüberstehe.
Die Arbeiterkammer Wien ist ein Gebäude, das nach dem 2. Weltkrieg erbaut wurde – architektonisch betrachtet – ein massiver Block. Wie steht man als Filmemacher davor und beginnt, sich im wahrsten Sinn des Wortes, ein Bild von dem zu machen, was hinter der Fassade ist?
Das ist eine Frage, die natürlich ganz Grundsätzliches aufwirft: Was kann ein Bild zeigen? Was sind die Bedingungen für ein Bild? Für die filmische Darstellung von Institutionen habe ich die Methode des Direct Cinema gewählt: die teilnehmende Beobachtung ohne gestellte Szenen, ohne Interviews, ohne erklärenden Off-Kommentar. Diese Methode hat zur Folge, dass man sich sehr viel Zeit nehmen muss, sowohl in der Recherche als auch beim eigentlichen Dreh, um über das bloße Abbilden hinauszukommen. Diese Form des Dokumentarfilms, die eben kein vorformuliertes Drehbuch bebildert, ist immer eine Entdeckungsreise und in diesem Sinne habe ich mich auch durchs Haus bewegt – mit einem möglichst offenen Blick. Begonnen habe ich mit dem Bereich, den viele Außenstehende als Erstes mit der Arbeiterkammer assoziieren: die Beratungen. Die ersten Kontakte im Haus und die Beratungen vor Ort finden im Erdgeschoß statt. Von dort aus habe ich mich dann durch die vielen Büros in den übrigen Stockwerken gearbeitet. Es ist wirklich unglaublich spannend zu sehen, wie groß das Spektrum der Tätigkeiten in diesem Gebäude ist: das reicht von der Vertretung eines einzelnen um den Lohn betrogenen Arbeitnehmers über das Ausformulieren von Arbeitszeitgesetzen und verfassungsrechtlichen Fragen bis zu den umfangreichen Aktivitäten realpolitischer Interessensvertretung.
Ein wichtiger Fokus des Films ist auf die Beratungstätigkeit der Arbeiterkammer gerichtet. Im Mittelpunkt steht das Individuum in einem sehr breiten Fächer von Herkunft und Bildung. Hat es Sie auch überrascht und vielleicht erschüttert, wie massiv und existenzbedrohend viele Problemlagen waren?
Es wenden sich tagtäglich sehr viele Menschen mit ihren Anliegen an die Arbeiterkammer. Die Hilfestellung in äußersten Notlagen ist alltägliches Geschäft, das sieht man sehr schnell. Die Einzelschicksale sind natürlich in ihrer individuellen Geschichte oft sehr berührend, aber aus Sicht der Arbeiterkammer und für den Film ist es wie ein unaufhörlicher Strom. Von der Vielfalt der Problemstellungen war ich tatsächlich oft überrascht. Mir wurde selbst bewusst, wie sehr ich mich in meinem Alltag in einem sehr eng umrissenen Umfeld bewege. In der Wiener Arbeiterkammer wird einem schön vor Augen geführt, wie vielfältig sich unsere derzeitige Gesellschaft darstellt. Das wollte ich mit dem Film unbedingt einfangen. Wie man sich vorstellen kann, haben wir, gerade was die Beratungssituationen betrifft, sehr viel gedreht, wovon nur ein Bruchteil im Film zu sehen ist.
Ein zentrales Thema scheint in diesen Situationen dabei Sprache, in vielerlei Hinsicht, zu sein. Nicht nur werden Menschen mit nicht deutscher Muttersprache in ihrer Sprache betreut, es gibt ein eindrucksvolles Beratungsgespräch in Gebärdensprache zu sehen und es gilt, eine verständliche Sprache zwischen den Jurist:innen und den betroffenen Arbeitnehmer:innen zu finden. Es scheint eine permanente Übersetzungsübung.
Ja, das ist richtig beobachtet. Eine Erhebung der Wiener Arbeiterkammer hat ergeben, dass die Menschen, die aktuell Beratungen in Anspruch nehmen, zweihundert verschiedene Herkunftsnationen haben. Das muss man sich einmal vorstellen! Natürlich kann die Wiener Arbeiterkammer einige Sprachen abdecken – Türkisch, BKS, Ungarisch, Englisch – aber das ist nur ein kleiner Teil der Sprachen, die in Wien gesprochen werden. Und die gesprochene Sprache ist ja nur ein Aspekt des Übersetzens: Was die Vielschichtigkeit dieses Vorgangs bedeutet, wird einem in der Szene mit dem gehörlosen Ratsuchenden und der Gebärdendolmetscherin vor Augen geführt. Was ich dabei beeindruckend fand, war, dass die Gebärdensprache durchaus in der Lage ist, fachspezifisches Vokabular, das ich selbst kaum verstanden habe, auf den Punkt genau zu übersetzen. Grundsätzlich gibt es in der Arbeiterkammer ein hohes Verständnis dafür, Sprachbarrieren zu minimieren. Das ist mal mehr und mal weniger erfolgreich. Im Alltag ist das kein leichter Job, denn es ist klar, dass die Jurist:innen sich zwar bemühen, die Sachlage möglichst nachvollziehbar darzustellen, aber Gesetzestexte sind für Laien oft nicht leicht zu verstehen.
Einen zweiten Fokus sehe ich rund ums Management der Institution: Wie funktioniert die Arbeiterkammer als Arbeitgeber. Wie portraitiert man leitende Figuren mit dem filmischen Ansatz des teilnehmenden Beobachtens?
Die filmische Methode des Direct Cinema hat wie erwähnt ganz klare Regeln, die auf ein möglichst nachvollziehbares Erleben des Gezeigten abzielen. Das mache ich vor dem Drehen allen Beteiligten klar. Aus meiner Sicht lässt dies das Geschehen nicht nur unmittelbarer wirken, es gelingt mittels der filmischen Beobachtung, dass Situationen, Handlungen und Figuren in ihrer Komplexität erhalten bleiben. Die Interpretation der einzelnen Szenen bleibt für das Publikum deshalb tendenziell offen. Mein Ziel ist es, dass sich das Publikum ein eigenes Bild machen und sich selbst erfahren kann, indem die eigenen Vorurteile, Sehnsüchte, Projektionen analysierbar bleiben. In der Wiener Arbeiterkammer arbeiten rund siebenhundert Leute. Das ist rein organisatorisch natürlich ein großer Betrieb. Ich hatte den Eindruck, dass es einen hohen Anspruch an sich selbst gibt, möglichst vorbildlich als Arbeitgeber zu agieren und deshalb sehr viel Energie und Mittel in die innerbetrieblichen Strukturen investiert werden. Nach dem Motto: Wenn man schon für Verbesserungen in der Arbeitswelt kämpft, dann muss das auch im eigenen Haus gelebt werden. Diesen Anspruch habe ich sehr stark wahrgenommen. Ob man ihm in der Praxis auch gerecht wird, das zu beantworten würde ich als Anmaßung empfinden.
Wie wichtig war es Ihnen zu zeigen, wie die im Haus praktizierte Expertise auch hinaus in die Gesellschaft wirken kann?
Von Anfang des Projekts an war mir klar, dass die Beratungsgespräche in der Arbeiterkammer dramaturgisch das Fundament des Films bilden werden, auf dem sich dann die Expertise, die dieses Haus ausmacht, entfaltet. Die Arbeiterkammer ist ein außergewöhnlicher Think Tank. Aber auch eine Organisation, die im System des österreichischen Sozialstaats eine wichtige gesellschaftspolitische Rolle spielt. Diese politische Dimension der Arbeiterkammer war natürlich am schwierigsten dokumentarisch darstellbar, da sich dieser Bereich hinter verschlossenen Türen abspielt, wofür eine Dreherlaubnis zu bekommen praktisch unmöglich ist. Ich habe daher versucht, diesen Bereich indirekt zur Sprache kommen zu lassen, etwa über die Szene im Parlament oder manche Besprechungen und Pressekonferenzen. Vor allem in der zweiten Hälfte habe ich versucht, dies deutlich zu machen.
Wie sieht bei der Methode der teilnehmenden Beobachtung Ihre Kommunikation am Drehort aus, insbesondere mit den Kameramännern Johannes Hammel und Michael Schindegger? Wie führen Sie Regie in Situationen, die Sie möglichst nicht beeinflussen wollen?
Die Methode des Beobachtens ist grundsätzlich immer ein offenes Unternehmen. Für mich gibt es nichts Schlimmeres als »scripted reality« oder das Konzept des dokumentarischen »Themenfilms«, wo der Film lediglich zeigt, was er vorher schon gewusst hat. Für mich ist Dokumentarfilm das genaue Gegenteil davon, nämlich eine Konfrontation mit der Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit, die immer überraschend und herausfordernd ist. Das ist jedenfalls das, was das Team und ich beim Drehen erlebt haben und was das Publikum dann im Film miterleben kann. Ich habe Glück gehabt und für dieses Direct Cinema-Drehen ganz hervorragende Spezialisten gefunden: Mit Johannes Hammel und Michael Schindegger an der Kamera sowie Andreas Hamza und Claus Benischke-Lang als Tonmännern. Die Kommunikation am Drehort ist eine Mischung aus Vorgaben und Improvisation: wenn möglich arbeiten Kamera und Ton in großer Eigenständigkeit und lassen sich auf die Situation ein; wenn es notwendig ist, folgen sie strikt meinen Anweisungen.
Ein dritter Fokus berührt die Aktivitäten rund um die Wirkung und Wahrnehmung der Arbeiterkammer nach außen: Pressekonferenzen, Veranstaltungen, Imagekampagne. Gerade die Präsentation des Imagefilms für die Arbeiterkammer könnte Ihre filmische Arbeit nicht besser konterkarieren. Wie hat sich Ihr Blick mit dem Blick der PR-Abteilung getroffen?
Die Aktivitäten rund um das 100-Jahr-Jubiläum der Arbeiterkammer waren aus meiner Sicht ein Glücksfall für den Film. Denn wenn eine Institution ein Jubiläum feiert, muss sie sich selber erklären und ein Bild von sich entwerfen. Dieser Prozess der Selbsterklärung, der mit vielen konkreten Arbeitsschritten verbunden ist, ist für das Direct Cinema ideal, denn es kommen sehr viele grundsätzliche Dinge zur Sprache. Beispielweise habe ich früh mitbekommen, dass für die Werbe-Kampagne auch ein Werbespot geplant war und habe über Wochen die gesamte Entstehung dieses Spots dokumentiert. Im Film ist davon nur ganz wenig übriggeblieben, mit der Sichtung durch das Management-Team im Grunde nur der Endpunkt. Aber das liegt in der Natur der Direct Cinema-Methode, dass man ganze Prozesse dokumentiert, von denen am Ende das meiste nicht in den Film kommt, weil eine einzige Szene alles erklärt.
Wie viel war im Februar/März 2020 bereits gedreht, als die Pandemie begann? Wie sehr hat diese unerwartete Situation Ihr Drehkonzept durchkreuzt, Dinge unmöglich gemacht und gleichzeitig eine neue Dimension eröffnet?
Das Hereinbrechen der Pandemie hat den Film stark beeinflusst und verändert. Wir haben im Spätherbst 2019 zu drehen begonnen und waren mitten in den Dreharbeiten, als wir mit Covid konfrontiert wurden. Mitte März mussten wir auf die Pausetaste drücken, weil wir zunächst nicht wussten, wie es aufgrund der Pandemie und den notwendigen Maßnahmen weitergehen wird. Vieles musste in dieser Phase unwiederbringlich abgesagt werden. Aber da das allmähliche Hereinbrechen der Pandemie schon Teil des Films geworden war, war klar, dass der Film der Wirklichkeit weiterhin folgen musste. Das ist ja der Kern des Direct Cinema. Dadurch hat sich das Konzept natürlich verändert: Aus dem geplanten Institutionen-Portrait mit einigen Wochen Drehzeit ist dann eine etwas längere Beobachtung geworden. Rückblickend gesehen bin ich nach wie vor ambivalent, denn mit einem Schlag hat sich der Alltag in der Arbeiterkammer verändert und vieles, was ich drehen wollte, fand einfach nicht mehr statt. Zum anderen war es natürlich auch spannend zu sehen, wie sich die Institution in der Krise verhält und wie in der Arbeiterkammer sichtbar wurde, wie die Gesellschaft durch die Gesundheitskrise verändert wird.
Für den Schnittprozess, sagten Sie, musste sehr viel Material entstehen, um eine gute Grundlage zu haben. Wie erreichen Sie dieses hohe Maß an Verknappung? Wie sehr ging es darum, ein Gleichgewicht zwischen Menschen herzustellen, die zur Arbeiterkammer kommen, um Hilfe zu suchen und denen die Hilfe leisten?
Im Schnittprozess selbst versuche ich den Eindruck, den ich zu Beginn der Begegnung mit der Institution hatte, nicht zu vergessen. Das ist für mich eine Art Basis, von der aus ich das gedrehte Material beurteile. Dieses unmittelbare Erleben abzugleichen mit den späteren Erfahrungen und Erkenntnissen, das ist meine Leitlinie im Schneideraum. Gemeinsam mit dem Editor Dieter Pichler haben wir über einen Zeitraum von rund einem Jahr geschnitten. Wir haben dabei sehr lange daran gearbeitet, die Korrespondenzen und Beziehungen zwischen den Arbeitsfeldern in der Arbeiterkammer deutlich zu machen. Dies schien uns die zentrale Aufgabe, die uns das gedrehte Material gestellt hat. Der Schnittprozess hat sich durch die Pandemie verlängert, weil zum einen die Dreharbeiten länger gedauert haben, aber auch das Schneiden selbst zeitintensiver wurde. Dieter Pichler, das möchte ich an dieser Stelle festhalten, halte ich übrigens für den besten Editor in Österreich für diese Form des Dokumentarfilms. Er besitzt eine unglaubliche Fähigkeit das gedrehte Material zu analysieren und dann die richtigen Fragen zu stellen. Neben vielen anderen Fähigkeiten ist er ein ganz präziser Zuhörer, was das gesprochene Wort betrifft. Dies ist beim Direct Cinema, das oft ein sehr gesprochenes Kino ist, von großem Vorteil. Im Verdichten von dialogbetonten Szenen ist er unerreicht. Hat die Arbeit an diesem Film Ihre Wahrnehmung der Gesellschaft verändert? Ganz klar: ja. Neben vielen anderen Dingen habe ich zum ersten Mal in dieser Form über die grundsätzliche Bedeutung von Arbeitsrechten für die Gesellschaft nachgedacht. Ich komme aus einem Umfeld, dem sogenannten Kulturbereich, wo bis zur Pandemie eher wenig über Arbeitsbedingungen gesprochen wurde, wo im Gegenteil unter dem Deckmantel der Selbstverwirklichung und der kulturellen Teilhabe ein hohes Maß an Selbstausbeutung gang und gäbe war. Wie gut dieser Perspektivenwechsel, den der Film verursacht hat, konkret funktioniert, habe ich dann beispielsweise während der Dreharbeiten gesehen, als das Drehteam immer stärker begonnen hat, die eigene Arbeitssituation zu reflektieren. Obwohl wir seit vielen Jahren zusammenarbeiten, haben wir zum ersten Mal über unsere Arbeitsverhältnisse gesprochen und bei allen hat sich der Blick auf die eigene Arbeit ziemlich verändert. Aus meiner Sicht hat dies so gut funktioniert, weil die Arbeiterkammer eben ein Ort ist, der ganz nah dran ist an den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen und der wie selbstverständlich ein Denken und Handeln befördert, das im Sinne dieser Menschen ist. Es ist diese Art des Denkens und Handelns, die mich dort am meisten beeindruckt hat.
Interview: Karin Schiefer, Dezember 2021
Anwältin der „kleinen Leute“
Eine kurze Geschichte der österreichischen Arbeiterkammer
Die Idee, eine Arbeiterkammer als Interessensvertretung der Beschäftigten zu schaffen, reicht zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Zunächst lag dem vor allem die Idee zugrunde, den 1848 gegründeten Handels- und Gewerbekammern der Unternehmerschaft etwas entgegen zu halten. Die Handelskammern waren als offizielle Repräsentanz der Unternehmer gegründet worden und konzentrierten sich darauf, den politischen Prozess zugunsten ihrer Klientel zu beeinflussen, wie etwa anhand der Gewerbeordnungsnovellen oder der frühen Sozialgesetzgebung (beides in den 1880ern) ersichtlich wird. Ab 1868 stand den Handelskammern dafür im Abgeordnetenhaus des Reichsrates sogar eine eigene Kurie zur Verfügung. Die Uridee der Arbeiterkammer war es, das Instrument der Handelskammer »von unten« zu »spiegeln« und der ansonsten von jeder Mitbestimmung ausgeschlossenen Bevölkerungsmehrheit über ihren Erwerbsstatus politische Mitsprache zu verschaffen.
Die Habsburgermonarchie war der Idee demokratischer Einflussnahme, geschweige denn organisierter Interessensdurchsetzung, gegenüber wenig aufgeschlossen. Entsprechend geringer Erfolg war den Bemühungen, Arbeiterkammern einzurichten bis 1918 beschieden. Das änderte sich allerdings mit dem Ersten Weltkrieg und dem namenlosen Elend, das dieser auch im Hinterland verursachte. Diese Erfahrung untergrub binnen weniger Jahre die Legitimation der Monarchie völlig.
Ab 1917 begannen Sozialdemokratie und Gewerkschaften, sich aktiv auf eine politische Transformation vorzubereiten. Innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung herrschte weitgehend Konsens darüber, dass die neue Ordnung nicht nach russischem Vorbild durch eine Diktatur des Proletariats erzwungen werden sollte, sondern auf legalistischem Weg eine politische Neuordnung unter Beibehaltung der bürgerlichen Besitzordnung erreicht werden sollte. Die Arbeiterbewegung bereitete sich darauf vor, in einer bürgerlichen Demokratie Regierungsfunktionen zu übernehmen.
Gegenelite mit eigenem Wissensapparat
Anders als die britische Labour Party 1924, die diesen Irrtum politisch teuer bezahlen sollte, waren sich die handelnden Akteure in Österreich bewusst, dass sie allenfalls eingeschränkt auf die vorhandenen Verwaltungseliten wie auch auf die existierenden Wissensapparate würden zählen können, in denen ganz überwiegend konservativ geprägte Beamte und Hochschullehrer bestimmend waren.
Die ab 1917 neuerlich aufgegriffene und zunehmend stärker ventilierte Idee einer Arbeiterkammer setzte an diesem Punkt an: Die AK sollte den Kern einer Gegenelite bilden, einen eigenen Wissensapparat der Arbeiterbewegung, der es ermöglichen sollte, in legistischen Fragen, aber vor allem auch hinsichtlich der Wirkungsabschätzung einzelner politischer Maßnahmen unabhängig von den bürgerlich dominierten Wissensapparaten (Universitäten und Ministerialbürokratie) Entscheidungen treffen zu können. Zudem sollte die Arbeiterkammer durch die Unterstützung und Ausbildung der neu geschaffenen Betriebsräte helfen, die neu durchgesetzte wirtschaftliche Mitbestimmung mit Leben zu erfüllen. Aus Sicht der Unternehmerschaft und antidemokratischer Gruppierungen in der Ersten Republik war die AK daher Teil einer Entwicklung, die es durch einen autoritären Regimewechsel zu überwinden galt.
Dennoch folgte auf den christlichsozialen Staatsstreich 1933/34 nicht die Auflösung, sondern eine Umfunktionierung der AK. Diese wurde von einer eigenständigen Institution zu einem Büro der austrofaschistischen Einheitsgewerkschaft degradiert. Der prägende Unterschied zur Ersten Republik bestand darin, dass die Gründungsidee der AK durchaus von antagonistischen Klasseninteressen ausgegangen war, während das neue Regime eine prinzipielle Interessensdivergenz zwischen Arbeit und Kapital in Abrede stellte. Nachdem die Kammer in einem solchen korporatistischen Setting keine Interessenspolitik über Gebühr betreiben sollte, widmete sie sich verstärkt fürsorgerischen und kulturellen Aktivitäten. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1938 wurde die AK zerschlagen, ihr Vermögen verleibten sich die Deutsche Arbeitsfront und andere staatliche Stellen ein.
Sozialpartnerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Wiedererrichtung der AK nach 1945 verwies dann bereits auf einen nachhaltigen Wandel des politischen Systems: Die Arbeiterkammer war ab 1947 maßgeblich in das Zustandekommen der Lohn-Preis-Abkommen involviert, die den Ausgangspunkt für das System der österreichischen Sozialpartnerschaft bildete. Bundeskanzler Bruno Kreisky charakterisierte die Sozialpartnerschaft treffend als »Klassenkampf am grünen Tisch«, als Versuch, soziale Interessensgegensätze auf dem Verhandlungsweg durch Kompromisslösungen auszuräumen.
Bis in die 1980er prägte dieser fein austarierte konsensdemokratische Ansatz maßgeblich das politische Geschehen im Land. Die tragende Rolle der AK schlug sich innerhalb dessen nicht zuletzt im Arbeiterkammergesetz 1954 nieder. Während das erste AKG von 1920 als Aufgabenbereich lediglich von der »wirtschaftlichen und sozialen« Interessenswahrnehmung gesprochen hatte, kam nun als dritte Sphäre die kulturelle Interessenswahrnehmung hinzu, deutlich wurde hier also der Anspruch einer umfassenden Vertretung. Zugleich war diese Definition aber auch für Konservative deutlich anschlussfähiger, als eine Klassenorganisation in dem engen Sinne, wie die AK in der Ersten Republik gewesen war.
Der Hintergrund war klar: 1945 war das System parteinaher Richtungsgewerkschaften durch formal parteiunabhängige Einheitsgewerkschaften ersetzt worden. Konservative Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter standen damit nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb einer Struktur, die zwar sozialdemokratisch dominiert war, Konservativen aber Minderheitenrechte und eine gewisse Berücksichtigung ihrer Anliegen zugestand. Eine immer wiederkehrende Forderung sowohl der ÖVP- als auch FPÖ-Arbeitnehmerorganisationen seit den 1960ern war eine stärkere Entkopplung der AK als »allgemeiner« Interessensorganisation von der gewerkschaftlichen »Klassenorganisation«. Die AK solle, so der Tenor, ein eigenständiges Service- und Beratungsangebot bereitstellen, statt direkt und indirekt bloß dem Österreichischen Gewerkschaftsbund zuzuarbeiten.
Krise und neue Relevanz
Inmitten der tiefen Krise, in die die AK in den 1980ern primär aufgrund eigener Versäumnisse und Fehler schlitterte, suchte auch die sozialdemokratische Mehrheitsfraktion intensiv nach neuen Legitimitätsmustern. Das Wegbrechen einer sicher geglaubten Akzeptanz innerhalb der eigenen Mitglieder, die sich in Umfragen plötzlich zeigte, eröffnete den Raum, sich konstruktiv mit bis dahin abgelehnten Ideen auseinander zu setzen. Das Ergebnis war der im Arbeiterkammergesetz 1992 verankerte Rechtsschutz, heute jenes Tätigkeitsgebiet, mit dem die AK öffentlich sicherlich am stärksten assoziiert wird. Er war in gewisser Weise der Versuch, die korporatistisch angehauchte Idee einer eigenständigen, heißt von den Gewerkschaften möglichst unabhängigen Interessensvertretung zu kombinieren mit dem reformistischen Ideal eines Think Tanks der Arbeiterbewegung, der die Gewerkschaften nicht ersetzen sollte, sondern ihre Stellung im Staat, aber auch in der Rechtdurchsetzung stärken und sie als Kampforganisation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer freispielen sollte.
Dieses Experiment gelang. Ungeachtet der stark rückläufigen Bedeutung der österreichischen Sozialpartnerschaft hat die AK erfolgreich ihre Legitimitätskrise überwunden und verzeichnet mittlerweile als Institution neben dem Bundespräsidenten die höchsten Vertrauens- und Beliebtheitswerte in der österreichischen Bevölkerung. Statt die Gewerkschaften, wie auch diese selbst zeitweise besorgt waren, zu ersetzen, hat die AK fraglos dazu beigetragen, die Schlagkraft außerparlamentarischer Interessensdurchsetzung zu erhöhen und etwa in Diskussionen um die Zukunft des Sozialsystems die Bewältigung von Wirtschaftskrisen oder der aktuellen Pandemie pragmatische Lösungen im Sinne der Beschäftigten voranzutreiben.
Die Arbeit der AK hat nicht zuletzt die Rechtsprechung in Österreich entscheidend geprägt. So zeigt eine Studie aus dem Jahr 2014, die sich der Rechtsprechung heimischer Arbeits- und Sozialgerichte im Vergleich zu 1990 widmete (also zur Phase, bevor die AK Beratung und Rechtsschutz angeboten hatte), einen enormen Anstieg von ArbeiterInnen als klagsführende Partei: hatten vor der Reform 1992 hauptsächlich Angestellte den Rechtsweg bestritten, waren 2010 fast zwei Drittel, satte 63,4 % der KlägerInnen ArbeiterInnen. Wurde früher mit Arbeitgebern nur um große Beträge gestritten, nahm der Streitwert entschieden ab: Unterstützt von der Arbeiterkammer sind ArbeitnehmerInnen seither offensichtlich nicht mehr bereit, auch »kleinere« Ungerechtigkeiten widerspruchslos hinzunehmen.
Florian Wenninger (Institut für Historische Sozialforschung, Wien)
Weitere Informationen auf www.arbeiterkammer.at
Quelle: Presse Vielseitig / Stadtkino Filmverleih