Wann liefert die Politik endlich? Ein Strom-Essay über Preise, Inflation und die Kunst, die Kurven zu glätten:

Zwischen Stromrechnung und Wiener Schnitzerl

von Laura Peichl
von Thomas Buchbauer – Recherche, Konzept und Kuration Foto: © www.i-magazin.com

Österreich diskutiert über Teuerung wie über das Wetter: Alle reden mit, niemand kann’s ändern – und am Ende zahlen wir die Rechnung. Während das 1/8 Sauvignon in guten Wiener Wirtshäusern bei acht Euro angekommen ist und das Schnitzel in Richtung 35 marschiert, wird der Strom wahlweise zum Sündenbock oder zum Spielball. Wer hat recht? Wer profitiert? Und vor allem: Wann liefert die Politik endlich? Ein Meinungsquerschnitt – gespeist aus Leserkommentaren, Gesprächen mit Vorstandsetagen und Vorträgen der letzten Wochen – und eine Einladung, endlich die richtigen Stellschrauben zu drehen.

1. Meine „persönliche Inflation“ – und warum sie uns alle täuscht

Fangen wir bei mir an – es ist schließlich ein Essay. Mein privater Warenkorb ist kein akademisches Modell, sondern eine Handvoll Fixpunkte: Kaffee für meine Siebträgermaschine, der wöchentliche Einkauf im Supermarkt, Stromrechnung – schließlich heizen und klimatisieren wir elektrisch mit Unterstützung der PV-Anlage am Dach, und ja – gelegentlich ein Achterl Sauvignon Blanc. In manchem gutbürgerlichen Lokal Wiens kratzt das 1/8 inzwischen an 8 Euro. Das berühmte „Wiener Kalbsschnitzerl“ nimmt Anlauf auf die 35-Euro-Marke. Fühlt sich an wie 10 % Inflation, oder? Nur: Jeder hat seine ganz persönliche Inflationsrate. Wenn jemand keinen Wein trinkt und selten essen geht, sieht die Welt plötzlich viel freundlicher aus.

Die amtliche Statistik ist kühl: 4,0 % Inflation im September 2025, −0,2 % zum Vormonat – und 3,9 % HVPI. Aber die gefühlte Teuerung sitzt näher an der Geldbörse als am Index. Das macht die Debatte so hitzig – und so manipulierbar. Wer den Strom als den Grund für all unsere Probleme sieht, findet Belege; wer ihn freisprechen möchte, ebenso.

2. „Energie ist längst nicht mehr der Treiber“ – wirklich?

Dröhnen wir zuerst die Trommel, die zuletzt gerne geschlagen wird: „Energie ist nicht mehr der Inflationsmotor.“ In Vorträgen der letzten Wochen, an denen ich teilnahm, wurde das mehrfach betont: Bei der jüngsten IHS-Zerlegung der Teuerung entfielen 0,55 Basispunkte auf Energie, während Dienstleistungen mit 2,232 und Nahrungsmittel/Tabak/Alkohol mit 0,726 deutlich stärker zulegten. Auch Industriegüter trugen 0,591 bei – Energie „nur mehr Nebenrolle“ hieß es dort. Und ja: Beim Strom selbst wäre der Beitrag „etwas höher“, aber „Strom ist nicht der Treiber“ – so der Tenor der Ausführungen, die ich mir angehört habe.

Ich halte das für richtig und unvollständig zugleich. Richtig, weil der große Inflationspeak 2022/23 inzwischen abgebaut wurde und Kraftstoffpreise zeitweise dämpfend wirkten. Unvollständig, weil Strompreise nicht nur direkt wirken (Rechnung), sondern indirekt über Gewerbe, Dienstleistungen, Lebensmittelkühlketten, Logistik, Hotellerie. Wer im Wirtshaus acht Euro fürs Achterl zahlt, finanziert eben nicht nur Gestehungs- & Lohnkosten, sondern auch Kühlung, Beleuchtung, Küche – und damit Strom.

3. Haushaltsstrompreis: Die Kurve, die niemand sehen will

Strompreise für Haushalt Konsumenten (©Eurostat)

Schauen wir nüchtern auf die Haushaltsstrompreise: Die Eurostat-Zeitreihe (Band DC, inkl. Steuern) zeigt einen klaren Anstieg Richtung 2023/24, mit anschließender Konsolidierung, aber kein Zurück auf Vorkrisenniveau. Unsere Charts im i-Magazin (Eurostat, ergänzt um Statistik Austria) machen das deutlich: Die berühmt-berüchtigte „Fieberkurve“ war kurzzeitig abgeflacht, aber die Temperatur zeigt nun wieder nach oben.

Und jetzt kommt das Polit-Detail, das in Leserkommentaren immer aufpoppt: Sondermaßnahmen. Strompreisbremse, reduzierte oder ausgesetzte Abgaben – sie haben temporär gedrückt und werden schrittweise zurückgenommen. Heißt auf gut Deutsch: Rechnungen steigen wieder, obwohl der Großhandel nicht (mehr) am Anschlag ist. Das verwirrt – und nährt den Verdacht, irgendjemand verdiene sich im Hintergrund eine goldene Nase.

4. Merit-Order: Der Elefant im Raum

Ein ausgewiesener Experte formulierte es mir gegenüber sehr trocken: Solange brennstoffabhängige Kraftwerke die Preissetzung dominieren, „vererbt“ sich deren Preis ins ganze System. Wer das Marktdesign nicht anfasst, darf sich über Endkundenpreise nicht wundern: Spitzen nach oben, Täler nach unten – und dazwischen Ungewissheit. Diskutieren wir ernsthaft über Alternativen? Auf EU-Ebene bislang kaum, sagen Praktiker hinter vorgehaltener Hand. Zwei-Auktionen-Modelle, Abspaltung nicht-brennstoffgebundener Erzeugung, Durchschnittswerte mit abgesicherten „teuren Rändern“ – alles denkbar, politisch heikel. (Wer hier nickt, weiß, wie viele Mikrophone schon wieder ausgehen.)

Warum ich das wiederhole? Weil Leser mir schreiben: „Ihr redet immer vom Netz, aber der Preis kommt doch vom Markt!“ Genau. Markt macht Preis – Netz verteilt ihn. Wenn wir die Preisbildung nicht weniger gas- und spitzenlastig organisieren, dreht sich die Debatte über Netzentgelte im Kreis.

5. Politik zwischen Bremsen und Dividenden

Schnitt. Politik. Da heißt es einerseits: „Netzausbau um jeden Preis, 2030 rückt näher!“ Andererseits sind Bundesländer Gesellschafter ihrer Landesenergieversorger. Dividenden sind in Zeiten dünner Budgets süß. Die Versuchung, Gewinne zur Stopfung von Löchern zu verwenden, ist groß. Ist das notwendig? Oder sollten wir – wir sind Miteigentümer über Bundesländer oder Bund – mehr reinvestieren statt abkassieren?

Das Standardargument lautet: „Der Netzausbau muss bezahlt werden.“ Ja. Aber fair. Fair heißt: transparent, aufschiebbar, steuerbar – und nicht als Pauschalabgabe, die Häuslbauer gegen Gemeindewohnungsmieter ausspielt. Fair heißt auch: Gewinne der Versorger prioritär in Netz, Speicher, Digitalisierung zu leiten – bevor der öffentliche Eigentümer in Versuchung gerät, Budgetkosmetik zu betreiben.

6. Was die Praxis sagt: Stabilität schlägt Spekulation

In Interviews mit Branchenexperten wurde mir eines klar: Der Reiz der Marktpreisbilanzgruppe (MPBG) liegt nicht im Schnellreichwerden, sondern in Stabilität. Vertragstreue, klare Bandbreite (60–100 % des Marktpreises), Transparenz über Herleitung und kein Kündigungsroulette – das ist in stürmischen Zeiten viel wert. Die Sommermonate zeigten, dass der Floor greift und Planbarkeit entsteht. Für viele Betreiber ist das wichtiger als die Jagd nach Peaks.

Warum erwähne ich das in einem Essay? Weil es die Gegenfolie zur politischen Debatte ist: Während wir über symbolische Cent in der Grundgebühr streiten, zeigen Regelwerke wie die MPBG, dass klare, verlässliche Mechanik Vertrauen stiftet.

7. Strom als Lebensader – nicht als Prügelknabe

Zurück zur Inflationsdebatte. Ich unterschreibe die These, dass Energie – aktuell – nicht der größte Beitragsleister zur gesamtwirtschaftlichen Teuerung ist. Das belegen zumindest die Zahlen bis Mitte 2025. Aber: Strom ist systemisch. Jede Kilowattstunde hat Multiplikatoren. Deshalb ist Strompreis-Politik keine Nebenbühne. Wer in der Kommunikation „Energie ist eh nicht mehr der Treiber“ ruft, sollte im selben Atemzug sagen: „Gerade deshalb können wir jetzt den Sockel smart senken.“ Die Möglichkeiten liegen am Tisch:

* Steuern & Abgaben auf Strom gezielt senken – temporär, konjunktursensibel, planbar. (Das fordert die Energiebranche seit Langem, und wir haben es in diversen Gesprächen – nicht zuletzt rund um den „Netzentgelte-Realitätscheck“ – immer wieder gehört.)

* Erträge öffentlicher Eigentümer bindend in Netz-, Speicher- und Digitalprojekte rückführen.

* Datenverfügbarkeit schaffen: Transparente Last- und Einspeisedaten in (nahezu) Echtzeit, damit Kommunen, Betriebe, Bürgerenergie-Projekte wissen, wo Engpässe sind – und investieren können.

8. Zukunftsfit heißt: Speicher, Digitalisierung, bidirektional

Wir brauchen den großen Wurf – und der ist technisch greifbar:

  1. Speicher dort, wo’s nützt. Nicht jedes Dach braucht unbedingt eine Batterie (schlecht wär´s allerdings nicht) – aber Engpass-Knoten im Netz brauchen dezentrale und zentrale Speicher. Das senkt Spitzen, glättet Merit-Order-Effekte und spart Kupfer.
  2. Digitalisierung des Netzes. „Wer, wann, wo, wie viel“ – das muss sichtbar werden. Ohne digitale Durchgängigkeit sind Flexibilitäten blind.
  3. Eigenverbrauchsoptimierung fördern. PV-Mittagsspitze? Warmwasser, Kühlung, Prozesswärme in die Sonne schieben. Der Werkzeugkasten ist da, die Anreize fehlen oft.
  4. E-Autos als Schwarmspeicher denken. Nicht morgen, heute. Bidirektionales Laden gehört in jede Strategie. Netzdienlichkeit kommt nicht aus Hochglanzbroschüren, sondern aus Regelenergie-fähigen Fahrzeugflotten, die bezahlbar gesteuert werden.

Dass das kein Luftschloss ist, sagen die Praktiker: „Nicht jede Spitze mit mehr Kupfer beantworten, sondern Intelligenz und Infrastruktur zusammendenken.“ Ruhe bewahren, Flexibilität aufbauen. Genau so.

9. Medien-Reflexe und politische Ausflüchte

Ein Wort zur Kommunikation: Strom eignet sich prächtig als medialer Prügelknabe – weil ihn alle brauchen und keiner die Rechnung liebt. Wenn Österreich im Monatsrhythmus für hohe Inflation gescholten wird, zeigt die Zerlegung: Strom allein erklärt sie nicht. Lebensmittel, Dienstleistungen, Güter drücken aktuell mehr – das ist die Botschaft aus den besagten Vorträgen.

Die Politik macht daraus gerne: „Wir haben’s eh im Griff.“ Nein. Haben wir nicht. Wir haben Instrumente – Steuern, Abgaben, Eigentümerpolitik, Marktdesign-Positionen in Brüssel – und nutzen sie nicht konsequent. Wir schieben Termine, setzen Beiräte ein, beauftragen Studien – und warten auf die nächste Sitzungswoche.

10. Der faire Deal

Was wäre ein fairer Deal zwischen Politik, Versorgern sowie Kundinnen & Kunden?

  1. Transparente Eigentümerstrategie: Öffentliche Eigentümer (Bund/Länder) verpflichten sich, einen Großteil der Dividenden in Netz, Speicher, Digitalisierung zu reinvestieren.
  2. Abgaben-Reset mit Ablaufdatum: Temporäre Abgabensenkung auf Strom – gekoppelt an Preisfenster und Wirtschaftslage. Keine Gießkanne, sondern Kondition.
  3. Brüssel-Agenda: Österreich positioniert sich aktiv für Marktdesign-Reformen, die nicht-brennstoffgebundene Erzeugung preislich eigenständiger machen und Extremspitzen abfedern – ohne Versorgungssicherheit zu gefährden. (Die Modelle liegen am Tisch; man muss sie verhandeln, nicht verdrängen.)
  4. Flex wird Pflichtfach: Bidirektionales Laden, steuerbare Lasten, Kommunal-Speicher – als Regelbausteine in Bau- und Förderlogiken.
  5. Wahrscheinlich gibt´s noch mehr zu bedenken – bringen Sie sich ein! Aber bitte ohne Eigeninteressen.
11. Und jetzt ganz menschlich: Warum mich 8-Euro-Achterl politisieren

Ich gönne jedem Wirt seine Kalkulation und jeder Kellnerin ihr Trinkgeld (bekommen sie ohnehin noch oben drauf). Aber wenn das 8-Euro-Achterl zum neuen Normal wird, muss die Politik erklären, warum sie beim Sockel – Strom – zögert. Steuer- und Abgabenpolitik ist Hausaufgabe, Eigentümerpolitik ist Hausaufgabe, Brüssel-Politik ist Hausaufgabe.

Die Kommentare unserer Leserinnen und Leser lassen sich auf einen Nenner bringen: „Sagt uns endlich ehrlich, was der Strom wirklich kostet – und wofür wir zahlen.“ Genau darum geht’s. Transparenz in der Preisbildung, Planbarkeit in der Rechnung, Klarheit in der Netzstrategie. Dann muss auch niemand mehr die E-Auto-Steckdose gegen die Gemeindewohnung ausspielen.

12. Schluss mit Symbolen – her mit Systemen

Zum Finale eine unpopuläre These: Einzelne Cent-Entlastungen in der Grundgebühr werden niemandem den Herbst retten. Systemische Eingriffe schon: Marktdesign rauf auf die EU-Agenda, Abgaben mit Verfallsdatum, Eigentümerdividenden in Infrastruktur, Flex verpflichtend machen.

Die Branche hat uns in den letzten Gesprächen – vom Abwickler, der Stabilität liefert, bis zur Verbandschefin, die die Inflationsmythen zurechtrückt – genug Stoff gegeben. Jetzt ist die Politik dran. Wann liefert sie endlich?

Quellen:

  • Vorträge und Statements zur Inflationszerlegung (Rolle der Energie; „Energie nicht mehr Treiber“, Aufschlüsselung in Basispunkte; Einordnung von Strom im Energiesegment).
  • Interview- und Hintergrundgespräch (Marktpreisbilanzgruppe, Ausgleichsenergierisiko, Merit-Order-Logik, Handlungsgrenzen auf EU-Ebene, Appell zu Stabilität und Flexibilität).

*Hinweis: Die im Essay genannten Preis- und Indexangaben zur Inflation sowie die Zeitreihen zur Strompreisentwicklung beruhen auf amtlichen Quellen – Eurostat/Statistik Austria – und auf i-Magazin-eigenen Auswertungen aus diesem Dossier.

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